Gertrude
(Auszug)

Gertrudes Mutter Emilie Mediz-Pelikan gibt Gertrude vom Jenseits aus Zeichenunterricht. Später zeichnen und malen die beiden zusammen an der Schnittstelle zwischen Jenseits Totenreich Geisterwelt genau am oder durch’s Portal, durch das dann Pinsel oder Bleistift genau in beiden Dimensionen zeitgleich existieren, kongruent, die gleiche feste echte Materie, die gleiche Form und Bewegung und wenn jede in ihrem Raum, in ihrer Welt ein bisschen nachgibt, die zeichnende Hand ein bisschen lockerer lässt, spüren beide die Bewegungen Richtungen Aufbrüche Abbrüche der jeweils anderen am Stift oder Pinsel.

Vielleicht sind es auch nicht mal mehr Stift oder Pinsel sondern nur die äusserste malende Spitze, nur noch der Strich selber, der in der Welt der Toten und in der Welt von Gertrude nur auf anderen Tischen, sonst ganz exakt die gleichen Bewegungen, nur in anderen Räumen, die anders dekoriert sind, mit anderen Ausblicken vor den Fenstern. Im Totenreich sind natürlich Bäume im Hintergrund. Etwas weiter oben am Hang, der als große Wiese in unsere Richtung hinabsteigt und sich verbreitert, ist alles wie die Scheibe im Auto vom Rücksitz aus innen angehaucht bedeckt vom Bodennebel oder Tau. Wahrscheinlich nur um allen Bewohner*innen des Totenreiches für immer alle Zartheit anzuzeigen. Es sind keine Blüten auf der Wiese zu sehen, abgezäunt steht eine Pferdekoppel oder sonstwie Koppel, vielleicht ist das auch nur Einbildung, denn ich glaube es gibt keine Zäune und Koppeln mehr um irgendwen einzuhegen im Totenreich, und die Häuser hat man weil man eh schon tot ist und alle dort leicht zur Nostalgie neigen, aber wirklich nur leicht, und diese ist eher einem konstanten Erzählen geschuldet, den vielen Erinnerungen und Geschichten die sich ansammeln, immer mehr und mehr im Totenreich, so entstehen also die Häuser aus alter Gewohnheit und in einer völlig entgrenzten Welt warum auch nicht doch nochmal ein Haus, ein Bett und einen Tisch zum Zeichen. Direkt vor dem Fenster steht noch ein dicker Walnussbaum vor Emilies Fenster in dieser Version des Totenreichs. Um den Baumstamm rum eine simpel gezimmerte Bank im Kreis. Blick in alle Richtungen. Vielleicht singt jemand im Sommer auf der Bank, Gesänge so alt man glaubt es kaum. Die Liedtexte so unverständlich unbekannt, aus so vielen Leben und aus so viel toter Materie raus gesammelt, die Geschichten die gesungen werden müssen, so als würde jetzt jemand das ganze Internet singend vortragen auf einer Schalmei oder whatever. Wird der dicke Walnussbaum jemals größer oder nicht und war er schon immer? Wächst dort was oder ist alles nur? Wird alles nur? Sammeln sich nur Geschichten oder auch die Zeit? Welche? Ist Zeit dort mehrdimensional oder so wie wir sie uns auch hier vorstellen? Hier als Ansammlung, Addition Fortschritt Wachstum Raum der Optimierung oder Stress. Hat Zeit in der Geisterwelt eine andere Funktion als nur die, alle Arbeiter*innen im gleichen Moment ins Büro zu bekommen? Wenn es Büros gibt im Jenseits, dann will ich ewig Leben wie Vampire. Denn gibt es Büros im Jenseits ist unsere Seele so oder so verloren. Dann bleiben wir lieber Vampire finde ich. vampires of love. vampires of the hypnotic rhythm. dancing vampires of the X T and C. Riechen wir dann immer die uns geltende Liebe direkt unterm Kinn am Hals aller anderen Menschen und im warmen Fell der Tiere, auch derer die unter unseren Achseln wohnen? Spüren die allumfassende Liebe, wenn wir mit der Hand durch nasse Wiesen streichen? Sehen wir die weichen Töne einer Freiheit aufleuchten rot und schwarz im Stroboskop der Klubs oder gemütlich an der Wohnzimmerdecke auf dem Sofa sitzend? Weiss nicht. Vampire einer funktionslosen Welt. Ewig Büro. Im Jenseits geht das alles einfach weiter. Niemand ist seines oder ihres Glückes Schmied, das jenseitige Versprechen von Erfolg bleibt eine 40-Stunden-Woche. Trostlos und hoffnungslos im Surren der Klimaanlage sitze ich an meinem Arbeitsplatz, vermutlich der Hölle, höre noch die Geschichten verlorener Arbeitskämpfe, höre von einer mehrdimensionalen Zeit, die's nicht gibt und es wird niemals wieder Feierabend und jeden Tag zum Mittag nur Fleisch in der Kantine. Meine Träume in Ewigkeit zu brauner Soße verkocht wie irgendwie alles. Die CSU schaffts seltsamerweise in alle meine eher dystopischen Vorstellungen momentan. Schlimme Befürchtungen. Elender Konservatismus. Niemals Manfred Weber. Aber alles hat nur mit dem Gehirn zu tun. Ihr wisst schon. Zeit kann nicht eindimensional sein im Totenreich. Da glaube ich nicht dran, das macht kein Sinn. Es wäre ausserdem, fast schon Verschwendung wenn das so wäre. Die Geschichten, die sich sammeln stehen dem entgegen, die bleiben frei, was auch immer das bedeutet, sie wählen ihre Worte aus anderen Gründen und ich glaube, das ist der große Unterschied, die Intentionen mit denen die ausgesprochen werden, auch wenn die Stories manchmal leicht nostalgisch sind und zum Beispiel Emilie Mediz Pelikan ein Haus auf dem Land als Herberge ihres Geistes gewählt hat, steht da doch eine Öffnung am Anfang oder am Ende oder sonstwo oder überall, Portale für alle Welten freundlich durchlässig. Wir bleiben Vampire föderaler Schönheit.


Blickt man aus Gertrudes Fenster sehen wir in wechselnden Städten einer irgendwie realen Welt mit eindimensionaler Zeit, Häuserfassaden, Hinterhöfe und Schornsteine die im Winter rauchen weil zu der Zeit alle so Kohleöfen hatten, zum Beispiel hier in Dresden. Manchmal sehen wir auch anderswo, ferner dann, auf allen Ebenen später oder verschoben oder vorher noch auf den Reisen nach Paris, Knokke, Tirol oder an die Adria. Manchmal sehen wir durch Gertrudes Augen wie Sie vom gemeinsamen Zeichnen kurz aufblickt, dann abschweift und die Mutter weiter alleine den Stift in Gertrudes Hand von der anderen Seite aus führt. Dann sehen wir durch Gertrudes Augen aus dem Fenster raus nichts als ein diffuses flächiges Licht, endlos erblickte Leere, ein helles Nichts den Herbstmonaten geschuldet und wären wir in Gertrudes Körper gemeinsam vom Zeichentisch aufgestanden und sähen wir durch ihre Augen, sähen wir unten an der Kante über die komplette Breite der Sicht, übergewichtig anziehend dunkel vielleicht in Graphit aufgeribbeltes gekrakeltes Portal, hier raus zum Ende hin, rüber, vereinzelt tanzend winkend zusammen, das Meer.


Gertrude
Text Performance / Lecture
2019

@ Loggia München
wwww.loggialoggialoggia.com

bald als Künstlerbuch erhältlich